Am 29. Mai flossen bei der Norilsk in Nordsibirien etwa 20.000 Tonnen Diesel in Umwelt und Gewässer, nachdem ein Tank einer Tochtergesellschaft des russischen Nickel- und Kupfergiganten Nornickel kollabiert war. Einige Tage später, am 3. Juni, erklärte der russische Präsident Wladimir Putin den Vorfall zu einer Katastrophe föderalen Maßstabs.

Aufgrund von Verzögerungen bei der Weitergabe wichtiger Informationen an die zuständigen Regierungsbehörden begann umfassende Maßnahmen jedoch erst wenige Tage nach dem Unfall, als der ausgelaufene Kraftstoff bereits den nahegelegenen Fluss Daldykan kontaminiert hatte und in Richtung des Sees Pjasino weiter zum Kara-Meer floss.

Der Unfall ereignete sich in der arktischen Tundra, einem äußerst fragilen Ökosystem, das von Umweltkatastrophen dieser Größenordnung irreversible geschädigt wird. Laut Umweltspezialisten könnte sich die Flora und Fauna des betroffenen Gebiets sich in absehbarer Zeit nicht erholen, selbst falls die Sanierungsarbeiten erfolgreich abgeschlossen würden.

Eine Geschichte der Verschmutzung

Die jüngste Katastrophe ist alles andere als ein Einzelfall. Sie ist mit den Aktivitäten des Industriekonzerns Nornickel in Norilsk und Umgebung verbunden. Nur wenige Tage vor dem jüngsten Vorfall trat in den Werken von Nornickel ein weiteres kleineres Kraftstoffleck auf, und 2016 färbte sich das Wasser des Flusses Daldykan in der Nähe von Norilsk kurzzeitig durch eine große Leckage von Industrieabwässern rot.

Nornickels Aktivitäten machten Norilsk zu einer der am stärksten verschmutzten Städte Russlands und der Welt, und zu eine Zeit lang war die Stadt für bis zu 10% der industriellen Verschmutzung in Russland verantwortlich. Ein riesiges Gebiet rund um Norilsk ist heute eine tote Zone. Leider beschränkt sich die entsetzliche Umweltbilanz nicht nur auf die Betriebe in Nordsibirien. Indigene, die in der Umgebung ihrer Fabriken im Gebiet Murmansk nahe der russischen Grenze zu Norwegen und Finnland leben, klagen seit langem über die Luftqualität in der Region. Wie ein russischer Journalist sagte , ist die permanente Umweltkatastrophe für Nornickel der Modus Operandi .

Nornickel, indigene Völker und die Schädigung der Lebensgrundlagen

Während viel über die rein ökologischen Auswirkungen der Katastrophe gesagt wurde, haben nur wenige Medien die potenziell katastrophalen Auswirkungen der Ölpest auf die indigenen Völker in der Region erwähnt.

Der Dolganisch-Nenzische Bezirk Taimyr, der die Stadt Norilsk umgibt, ist Heimat verschiedener indigener Völker der Arktis – Dolganen, Nenzen, Nganasanen, Ewenken, Enzen – deren Lebensstil auf Jagd, Fischerei und Rentierhaltung basiert. Die Hochöfen von Nornickel wurden vor über 80 Jahren auf Land gebaut, das traditionell von indigenen Völkern bewohnt und genutzt wird, ohne ihre Interessen zu berücksichtigen. In den Jahrzehnten seitdem haben Bergbau und Hochöfen Luft, Boden und Wasser verschmutzt und sich verheerend auf die Lebensgrundlage der indigenen Völker ausgewirkt.

Laut Gennady Schtschukin, dem führenden Kopf der indigenen Völker Taimyrs, selbst Dolgane und Mitglied des Kreisrats, wird die jüngste Katastrophe einen weiteren Schlag für das fragile arktische Ökosystem bedeuten. Wenn sie nicht richtig gehandhabt wird, wird die Katastrophe eine Kettenreaktion auslösen. In das mit Diesel kontaminierte Wasser können Mücken keine Eier legen, und dies führt wiederum zu einem Mangel an Futter für den Fluss- und Seefisch, der ein wichtiger Bestandteil der Ernährung von Menschen und vielen Tieren in der Tundra ist. Darüber hinaus können Treibstoffrückstände im Wasser auch am Rentierfell haften bleiben und deren Isolationskapazität verringern, was zu deren Tod führen kann. All dies wird zu einer dramatischen Zunahme der Ernährungsunsicherheit in diesen abgelegenen indigenen Gemeinschaften führen.

Gennady Schtschukin in Norilsk

Obwohl die Geschichte der Zerstörung der Lebensgrundlagen indigener Völker durch den Industriegiganten weit zurückreicht hielt sich bis zur jüngsten Katastrophe die direkte Interaktion des Unternehmens mit indigenen Völkern in Grenzen. Das Unternehmen unterstützt regelmäßig Folklorefestivals und andere kulturelle Veranstaltungen, die von lokalen Behörden und Institutionen organisiert werden und finanziert verschiedene soziale Initiativen in den Bereichen, in denen es tätig ist. Darüber hinaus verabschiedete das Unternehmen 2018 eine Unternehmenspolitik zu den Rechten indigener Völker, die ausdrücklich auf das ILO-Übereinkommen 169 Bezug nimmt.

Laut Rodion Sulyandziga, einem prominenten Befürworter und Verteidiger der Rechte indigener Völker in Russland und Mitglied des UN-Expertenmechanismus für die Rechte indigener Völker, bleiben die meisten dieser Initiativen Antworten auf die drängenden Fragen nach dem Schutz der Gebiete indigener Völker und ihrer Ressourcen und nach Entschädigung für Jahrzehnte der Umweltzerstörung schuldig.

Unterdessen weiß Schtschukin, der das Unternehmen seit langem wegen seiner Umweltauswirkungen konfrontiert, von keiner formellen Plattform für regelmäßige Konsultationen zwischen Nornickel und indigenen Aktivisten und Führungspersonlichkeiten. Er hofft, dass das Unternehmen jetzt, wo die Leckage kritischer Reaktionen der russischen Staatsführung hervorruft, seine Geschäftstätigkeit umsichtiger gestalten wird.

Schritte zur Anerkennung und besseren Zusammenarbeit

In einer weithin ausgestrahlten Videokonferenz , an der Putin und Nornickels Hauptaktionär Wladimir Potanin teilnahmen, erklärte der Unternehmensvertreter, dass das Unternehmen „mit Umweltorganisationen und Vertretern indigener Völker zusammenarbeitet“. Potanin ergänzte, dass das Unternehmen neben der Verpflichtung, „so viel Geld wie nötig“ für die Bewältigung der Katastrophe auszugeben, Programme zur Unterstützung der Rentierhaltung und der Vermehrung von Süßwasserfischen einführen werde.

Schukin besuchte die Stelle der Leckage als Mitglied einer Delegation indigener Führungspersönlichkeiten und Aktivisten und konnte mit Unternehmensvertretern über das Katastrophenmanagement sprechen, obwohl weitere Schritte zur Bewältigung des langfristigen Schadens nicht im Detail erörtert wurden.

“Wir sind uns einig, dass die Bewältigung des unmittelbaren Schadens oberste Priorität haben muss, und sobald dies geschehen ist, werden wir diskutieren, wie die vorgeschlagenen Hilfsprogramme für indigene Völker umgesetzt werden”, sagte er.

Schtschukin träumt davon, eine Körperschaft zu gründen, die von den indigenen Völkern geleitet wird, um die Verwendung von Nornickels Mitteln zum Nutzen der indigenen Völker der Region zu überwachen.

Sulyandziga wiederum ist der Ansicht, dass es wichtig ist, sicherzustellen, dass die relevante Diskussion über die Unterstützung indigener Völker nicht die noch wichtigere Debatte über die von den Vereinten Nationen in der Erklärung über Rechte Indigener Völker (UNDRIP) anerkannten Rechte verdrängt, einschließlich des Rechts auf Land, Ressourcen, saubere Umwelt und traditionelle Ernährung.

Eine solche Debatte könne schließlich zur Einführung von Mechanismen führen, die es den indigenen Völker Russlands erlauben, auf die Geschäftstätigkeit von Unternehmen in ihren traditionellen Gebieten zu einzuwirken sowie zur Entschädigung für Verletzungen dieser Rechte. Russland hat sich jedoch bei der Abstimmung über die UNDRIP enthalten und das ILO-Übereinkommen 169 nicht ratifiziert, was bedeutet, dass den indigenen Völker Russlands bis heute diese Rechte vorenthalten werden, einschließlich des grundlegenden Rechts auf Freie, Vorherige und Informierte Zustimmung (Free, Prior and Informed Consent, FPIC) zu Aktivitäten in ihren Ländern und Territorien, sowie die Anerkennung ihrer Landrechte.

Sowohl Schtschukin als auch Sulyandziga denke, dass das weltweite Bewusstsein, insbesondere unter den Verbrauchern russischer natürlicher Ressourcen, für die Art und Weise, wie diese Ressourcen gewonnen werden und dafür, dass die große Mehrheit der Rohstoffgewinnung auf dem Land indigener Völker stattfindet und dass diese einen hohen Preis dafür zahlen, den indigenen Völkern Russlands in ihrem Kampf um die Anerkennung ihrer Rechte in Russland helfen wird.


Quelle: International Work Group for Indigenous Affairs