Der Sommer ist vorüber und damit auch die wichtigste Reise-, Urlaubs- und Ferienzeit für Menschen in Deutschland. In diesem Jahr sind der Sommerurlaub oder die Sommerferien für viele anders gewesen als sonst und als geplant. Aufgrund der Corona-Pandemie war Reisen nur eingeschränkt möglich. Dies bedeutete für viele Urlauber*innen, aber insbesondere auch für Menschen, die in der Tourismusbranche tätig sind, große, zum Teil existenzbedrohende, finanzielle Einbußen. [1]

Diesen Sommer haben aber auch viele Menschen ihre Umgebung und das Reiseland Deutschland neu entdeckt. Was ist uns denn eigentlich am Wichtigsten im Urlaub? Wann ist eine Reise für uns wertvoll? Ist es das so ganz andere, entfernte Reiseziel mit abenteuerlichen Touristen-Attraktionen? Sonne, Strand und Meer? Oder ist es das ‘Rauskommen’ aus dem Alltäglichen, die Luftveränderung, das achtsame Entdecken unbekannter Orte, das Kennenlernen fremder Menschen und Lebensgeschichten?

In jedem Fall scheint es für Reisende wichtig zu sein, Zeit und Raum zum Wohlbefinden zu haben. Dafür muss nicht in die Ferne geflogen werden. Vielmehr tragen ein sorgsamer Umgang mit der Natur und Menschen, die mit Freude und Wertschätzung für ihre Arbeit, Dienstleistungen für Tourist*innen anbieten, zu einem Wohlbefinden bei. Nicht nur in Bezug auf unseren Urlaub, sondern auch bei unserer Arbeit und der wirtschaftlichen Entwicklung unserer Gesellschaft sollte das Wohlbefinden der Menschen in der Gemeinschaft an vorderster Stelle stehen. In Deutschland werden Wohlstand und Lebenszufriedenheit jedoch am Bruttosozialprodukt und am Wirtschaftswachstum gemessen.

Welche alternativen Maßstäbe für das nachhaltige Entwicklungsziel 8 – Dauerhaftes, integratives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern – angelegt werden können, zeigt uns das Beispiel der Gemeinde Smangus in Taiwan, die für ihre nachhaltige Tourismus-Strategie bekannt ist.

Während der Schwerpunkt des SDG 8 insgesamt auf Wirtschaftswachstum und Produktion liegt, thematisiert das Unterziel 8.9 den nachhaltigen Tourismus. Der Tourismus stellt ein wichtiges Wirtschafts- und Arbeitsgebiet für viele Menschen, insbesondere für lokale und indigene Gemeinschaften, die in intakten ländlichen Gebieten mit natürlichen Sehenswürdigkeiten leben, dar. Nachhaltiger Tourismus kann nicht nur Arbeitsplätze schaffen, sondern auch die lokale Kultur und deren Produkte fördern, wie das Beispiel aus Taiwan zeigt. Gemeinschaften in Taiwan – und anderswo -, die touristische Dienstleistungen anbieten, sind wirtschaftlich von Tourist*innen abhängig. Daher neigen sie dazu, deren Wünschen entgegenzukommen, anstatt von ihnen zu verlangen, sich an die Situation des Urlaubsortes und an die Werte und Bräuche der lokalen Guides und Gastgeber*innen anzupassen. So kann es passieren, dass “der Tourismus das Leben der Einheimischen kommerzialisiert und zum Verlust der Authentizität der kulturellen Produkte und der menschlichen Interaktion führt.” [2] Das Beispiel der Qalang-Smangus-Gemeinschaft zeigt, wie diese es geschafft hat, ein Gleichgewicht zwischen kommerzialisierter Gastfreundschaft und authentischem indigenen Dorfleben herzustellen und sich zu einer anerkannten nachhaltigen Gemeinschaft zu entwickeln. [3]

Die Bewohner*innen des kleinen Dorfes Qalang Smangus gehören zur Gruppe der Atayal, der drittgrößten von insgesamt 16 indigenen Völkern in Taiwan. Das Dorf liegt auf einer Höhe von 1500m und ist von Urwäldern mit reicher Artenvielfalt umgeben. Das heute etwa 175 Menschen zählende Dorf liegt in der Nähe des Naturreservats Yuanyang-See

Geleitet von dem Traum eines Ältesten, wollten die Dorfbewohner*innen ihre wirtschaftliche Situation verbessern und ihre Lebensweise von der Subsistenzlandwirtschaft auf den Tourismus umstellen. Sie begannen mit den Behörden über den Bau einer Zufahrtsstraße zu verhandeln und berichteten in den Medien über die riesigen, bis zu 2.500 Jahre alten endemischen Taiwan-Zypressen in ihrer Gegend, um Tourist*innen anzulocken. Ihre Entscheidungen basierten auf ihren eigenen Gewohnheiten und weniger auf externen Faktoren und wirtschaftlichen Anreizen. So wurde die Entwicklung des Dorfes in Richtung Tourismus von den Einwohner*innen als selbstbestimmt und im Einklang mit Atayal Gaga gesehen. Gaga kann als „Worte der Vorfahren“ übersetzt werden. [4]

Gaga umfasst Normen, Rituale, Wissen und Bestrafungsoptionen. Es beschreibt, “wie die Menschen in Smangus leben” und regelt das Verhalten. Gaga sagt den Menschen zum Beispiel, dass sie beim Jagen und Sammeln von Nahrung nicht mehr nehmen sollten, als sie tatsächlich brauchen, sonst ist es eine Lebensmittelverschwendung. Es gibt immer Nahrung im Wald, wenn sie nicht übermäßig ausgebeutet wird. Gaga stellt eine direkte Beziehung zwischen den Menschen und der Natur her, sowie die Zugehörigkeit zu deren Land. Gaga fordert von den Menschen, dass sie das, was sie haben, mit anderen teilen. Deshalb arbeiten und essen die Bewohner*innen von Smangus gemeinsam und teilen bei den Versammlungen ihre Erfahrungen über das Leben im Wald und das Wissen über Flora und Fauna. [5]

Die Smangus-Tourismusindustrie basiert auf den Prinzipien von Gaga, da sie das gemeinsame Handeln für gemeinsame Ziele betont. [6] Bei der Gründung der Kooperative Tnunan haben die Dorfbewohner ihre traditionellen Werte und Überzeugungen erfolgreich in das moderne Tourismusmanagement integriert. Innerhalb Tnunan teilen sich die Mitglieder alles, von der täglichen Arbeitsbelastung bis zum Einkommen, von Land und Grundstücken bis hin zu Feldfrüchten und Vieh. Die Unterkunftsmöglichkeiten, das Restaurant und der Lebensmittelladen sind gemeinsamer Besitz aller Beteiligten. Auf dieser Grundlage werden die Einnahmen aus dem Ökotourismus (bis zu 60.000 Tourist*inen besuchen jährlich das Dorf) auf den gleichen Mindestlohn für Männer und Frauen verteilt.. Ein solches System veranschaulicht den Begriff der Gleichheit.

Während die meisten indigenen Tourismusstätten in Taiwan traditionelle Tänze in kulturellen Themenparks aufführen und Kunsthandwerk in Museen ausstellen, bringt das Dorf Smangus den Tourist*innen ihre Lebensräume wie Wohnhäuser, die Kirche, die Grundschule und die Pfirsichfarm nahe. Der Tourismus wird nicht als eine Form der Entwicklung gesehen, die von der Regierung und externen Institutionen dominiert wird. Er ist Ausdruck der Kontrolle und eigenen Entscheidung der Dorfbewohner*innen, “die Dorfentwicklung auf den Tourismus zu fokussieren, mit dem Ziel ihre Authentizität im Einklang mit Atayal Gaga zu bewahren”. [7]

Obwohl die wirtschaftlichen Vorteile des Tourismus für die Gemeinschaft beträchtlich und wichtig sind, ist das Wesentlichste, dass der Tourismus von der Gemeinde Smangus eigenständig entwickelt wurde und in ihrem traditionellen Glaubenssystem verwurzelt ist. Mit dem Kooperationssystem von Tnunan setzt die Smangus-Gemeinde mehrere Aspekte des SDG8 um, wie nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle. Durch die Zusammenarbeit bei der Gründung eines Kleinunternehmens fördern sie den gemeinsamen Wohlstand und den nachhaltigen Tourismus.

Quellen und weitere Informationen:


  • [1] 2012 hatte der Tourismus hat einen Anteil von 9,3% an der globalen Wirtschaftsleistung siehe Erklärfilm von WissensWerte zu Tourismus und Nachhaltigkeit https://youtu.be/BYSkBldlQrY
  • [2] Hsu Pei-Hsin, S.2
  • [3] Hsu Pei-Hsin, S.46
  • [4] Hsu Pei-Hsin, S.67 and 71
  • [5] Cheng_Yu Yu S.9
  • [6] Hsu Pei-Hsin, S.5 + 46
  • [7] Hsu Pei-Hsin, S.62 und 67