– Ein Fallbeispiel aus Südafrika –

Beitrag von Dilara Rüttermann, Studentin der Sozial- und Kulturanthropologie an der Philipps-Universität Marburg und Praktikantin bei INFOE

Ein Launch-Meeting, das am 29. Juli 2021 online stattfand und bei dem auch INFOE e.V. mit einem kurzen Input vertreten war, stellte die Aktivität # 3 des zweijährigen Arbeitsplans der Arbeitsgruppe (FWG) der Plattform für lokale Gemeinschaften und indigene Völker (LCIPP) der Klimarahmenkonvention vor.

In den Beiträgen des Meetings wurden nicht nur Fragen zur ‚Identifizierung von Lehrplänen und Bildungsmaterialien von oder über indigene Völker im Zusammenhang mit dem Klimawandel‘ sowie ‚Erfahrungen und bewährte Praktiken im Zusammenhang mit der Entwicklung und Nutzung solcher Lehrpläne und Materialien, insbesondere im Hinblick auf die Anwendung, Stärkung, den Schutz und die Bewahrung indigenen Wissens‘ behandelt. In fast jedem der sechs Vorträge skizzierten die (indigenen) PräsentatorInnen rund um den Globus zudem Problematiken und Notwendigkeiten, die dem Eingang indigener Wissenssysteme in den formellen und informellen Bildungssektor zugrunde liegen. Stichwörter waren hier neben einem, vom französischen Vordenker der Entkolonialisierung, Frantz Fanon, geprägten ‚Comprador-intelligentsia‘- Ansatz, der bestehende postkoloniale Strukturen im Bildungswesen aufzeigt, vor allem der Wandel und die Dekolonisierung des Bildungssektors durch Aufklärung, Reformation und Transformation und damit die Dekonstruktion jener Strukturen.

Postkoloniale und eurozentristische Strukturen innerhalb zahlreicher Bildungseinrichtungen weltweit zeigen sich, wie aus dem Launch-Meeting im Juli hervorging, innerhalb einer de-kontextualisierten, d.h. an den lokalen Kontext unangepassten, Bildung. Laut Bal Chandra Luitel, Professor am „Department of STEAM Education“ der Kathmandu University in Nepal, sind Folgen dieser postkolonialen Strukturen im Bildungswesen unter anderem ein sogenanntes ‚Victim-blaming‘, Unzufriedenheit, Misserfolge und unzureichende Reformationen im Bildungssektor.

Das Fallbeispiel von Dr. Motheo Koitsiwe, Direktor des Zentrums für Indigenes Wissen der Fakultät für Natur- und Agrarwissenschaften an der Northwest-University (NWU) in Südafrika, stellte nicht nur die Relevanz der Implementierung indigenen Wissens in den Bildungssektor – nämlich deren Dekolonisierung, sowie die Anpassung an und die Eindämmung des Klimawandels – heraus, sondern zeigte zudem ein bedeutendes Beispiel zu deren Umsetzung auf.

Wie Dr. Koitsiwe in seinem Vortrag aufzeigte, existieren, alleine in Afrika, diverse und hochgradig komplexe Formen indigenen Wissens, die nicht auf Stereotype, wie eine alternative Medizin und indigene Konzepte von Krankheit und Heilung heruntergebrochen werden können. Stattdessen umfassen indigene Wissensformen vielfältige Disziplinen, wie Architektur, Bildung, Naturschutz, Viehhaltung und Astronomie etc. Insgesamt stellte die NWU sechzehn verschiedene Disziplinen indigenen Wissens heraus. Um dieses Wissen sichtbar zu machen und für deren Anerkennung und Wertschätzung zu sensibilisieren, sowie indigene Gemeinden darin zu bestärken, eigene Ideen, Entwicklungen und Innovationen voranzutreiben, bemüht sich die Northwest-University in Südafrika um die Integration indigenen Wissens in die universitären Strukturen.

Vor diesem Hintergrund leistete sie 2001 mit der Implementierung des Bachelors of Arts in indigenen Wissensformen (BA IKS) Pionierarbeit. Aufgrund der Vielfältigkeit und Ganzheitlichkeit, die indigenes Wissen umfasst, findet sich der vierjährige Studiengang heute in abgewandelter Form, als multidisziplinärer Bachelor in indigenen Wissensformen (BIKS) wieder und fokussiert nun, neben dem bisherigen sozialen und kulturellen Schwerpunkt, zudem Agrarwissenschaften, Medizin, sowie Naturwissenschaften und Technik als weitere Dimensionen indigenen Wissens. Nach intensiver Planung und Diskussionen mit verschiedenen afrikanischen Universitäten, der südafrikanischen Behörde für Qualifikationen (SAQA), sowie indigenen WissensträgerInnen und RepräsentantInnen indigener Gemeinden, fand der Studiengang (BIKS) im Jahre 2013 erstmals statt und verzeichnete Studierende aus ganz Südafrika.

Die Einbringung indigenen Wissens in den Bildungssektor und, konkret, die Implementierung des BIKS-Programms der NWU zielt nach eigenen Aussagen auf eine Vermischung von westlich-orientiertem Wissen und afrikanischen indigenen Wissensformen ab, um einen interkulturellen Kreuzungspunkt zu ermöglichen und so eine ausbalancierte, lebenswerte Lebensgrundlage zu schaffen, wobei Gebrauch von indigenem Wissen als Ressource im Entwicklungsprozess gemacht wird. Zudem sollen traditionelle afrikanische Glaubens- und Wertesysteme durch indigene Bildung sichergestellt werden.

Wie Dr Motheo Koitsiwe weiter aufzeigte, werden indigene Wissensformen und Traditionen seit vielen Jahren, nicht durch formelle Bildungssysteme, sondern durch informelle Sektoren, wie mündliche Überlieferungen von Generation an Generation weitergegeben. Die jeweilige indigene Sprache, in der diese Überlieferungen von Kosmologie, Kultur und Identität stattfindet, besitzt somit einen bedeutenden Stellenwert für den Schutz und den Erhalt indigenen Wissens. Vor diesem Hintergrund gestaltet sich die NWU als multilinguistische Universität und führt vom 13.09.2021 bis 17.09.2021 die Language Awareness Week durch, in der verschiedene Themen in Bezug auf Multilingualität an Universitäten, Förder-Strategien im universitären Kontext und Auswirkungen von Multilingualität auf die Wissensgenerierung sowie der Mangel an literarischen und kreativen Texten in afrikanischen Sprachen diskutiert werden.

Neben der Notwendigkeit der Implementierung indigenen Wissens in den Bildungssektor, stellte Dr. Koitsiwe im Juli-Meeting außerdem die Relevanz der Politik für den Erhalt lokaler Wissenssysteme heraus. So verabschiedete die südafrikanische Regierung im August 2019 ein Gesetz zum Schutz, der Förderung, Entwicklung und dem Management von indigenem Wissen in Südafrika (IK-ACT). Für eine wirksame Umsetzung und Durchführung des IK-ACT entwickelte das Department of Science and Innovation in Südafrika (DSI) ein Dokument (BCP), das die jeweiligen kulturellen und spirituellen Grundwerte, sowie die jeweiligen Gewohnheitsrechte in Bezug auf das Wissen und die Ressourcen indigener Gemeinden in Südafrika beinhaltet. Diese wurden im Zuge von Konsultationen und Gesprächen mit den Gemeinden ermittelt und festgehalten. Mithilfe jenes Dokuments sollen indigenen WissensträgerInnen ihre Rechte und Pflichten offenkundig gemacht und ein möglicher Umgang mit diesen aufgezeigt werden. So könne ein sozialer Zusammenhalt gewährleistet und indigene Rechte, sowie Werte und Entscheidungsfindungsprozesse gestärkt werden.

Abschließend wurde im Rahmen des Launch-Meetings die relevante Frage nach dem Gewinn und dem Nutzen für indigene WissensträgerInnen bei der Implementierung indigenen Wissens in den Bildungssektor diskutiert. Zentrale Aspekte waren hierbei das Empowerment und die Selbstachtung indigener Gemeinden und Individuen, sowie die Stärkung der eigenen (kulturellen) Identität.

Wie die PräsentatorInnen des Meetings aufzeigten, sei vor allem die Wertschätzung und Anerkennung indigener Wissens- und Lebensformen im lokalen und globalen Kontext, sowie eine ernsthafte Beschäftigung von Seiten lokaler und globaler AkteurInnen mit den Forderungen und Rechten der indigenen WissenträgerInnen hier von zentraler Bedeutung für ein Empowerment und die Stärkung dieser. Durch die Einbindung indigener Gemeinden und Individuen in öffentliche Strukturen, wie der Bildung, aber auch der Politik, sowie den Aufbau indigener Netzwerke werden diese endlich zu AkteurInnen im lokalen und globalen Gefüge und können ihre Rolle als passive RezipientInnen aufgeben.

Eine große Schwierigkeit dabei, sei, so Bal Chandra Luitel, in bestehenden Strukturen zu finden, die indigene Wissens- und Wertesysteme, welche oft erheblich von westlich-orientierten Überzeugungen abweichen, letzteren unterordnen. Die Herausforderung läge unter anderem darin, indigene Realitäten, Lebensformen und Kosmologien als gleichwertig zu einer positivistischen Wissenschaft zu positionieren, sodass eine Koexistenz der verschiedenen Wissensformen und Ontologien möglich ist.

Um eine solche Gleichstellung von indigenen und westlich-positivistischen Überzeugungen zu ermöglichen, ist zunächst die Sichtbarmachung der diversen indigenen Realitäten und ihren vielfältigen Wissensformen, insbesondere bei uns in Deutschland, einem Land, das größtenteils von jener aufgeklärten und rationalen Wissenschaft geprägt ist, von enormer Relevanz. In diesem Zusammenhang leistet INFOE mit der Zusammenstellung von Geschichten und kulturellen Botschaften aus indigenen Gemeinschaften mit Bezug zu den SDGs, die im Unterricht an Grundschulen eingesetzt werden sollen, auch einen Beitrag zur Umsetzung von Aktivität # 3 des Arbeitsplans der FWG.